Zitat:Dennoch stoßen Bürger, die bundespolitisch mitbestimmen wollen, an eine Mauer. Sie können auf Bundesebene nur wählen, nicht abstimmen.
Jung: Darüber kann man nur mit einem gewissen Zynismus reden. Die Macht sitzt in Deutschland beim Bund. Die Länder sind föderale Spielwiesen, und da dürfen die Bürger halt ein wenig mitreden. Wenn es aber ans Eingemachte geht, um Finanzen, Militär oder Atom, da ist der Bund zuständig, und der lässt sich nicht dreinreden.
...
Im deutschen Grundgesetz ist in Artikel 20 eigentlich ausdrücklich von Abstimmungen die Rede. Es heißt dort in Absatz 2: "Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen (...) ausgeübt."
Jung: Daran sieht man, dass sich die Väter und Mütter des Grundgesetzes 1948/49 für eine gemischte Form ausgesprochen haben. Während die Wahlen dann im Grundgesetz ausführlich geregelt sind, gibt es zu den Abstimmungen aber keine Ausführungen mehr. Die Option - die Bodenplatte, auf der man aufbauen könnte - ist aber schon gelegt worden. Natürlich müsste dazu das Grundgesetz geändert werden. Das geht nur mit Zweidrittelmehrheit, und die ist im Deutschen Bundestag nicht in Sicht.
...
Mehr direkte Demokratie würde Politiker wieder stärker erden. Direkte Demokratie will repräsentative Demokratie nicht abschaffen, sondern verbessern.
...
Es gibt eine Reihe von Gegenargumenten: dass etwa durch direkte Demokratie die Todesstrafe für Kinderschänder eingeführt werden könnte.
Jung: Das wäre juristisch unmöglich, die ist in Deutschland wie in Österreich abgeschafft. Es geht bei diesem Thema eigentlich um eine andere Sorge: dass nämlich Entscheidungen im Strafrecht unter dem Einfluss von Volkszorn getroffen werden. Daher sollte auch direkte Demokratie als langsames Verfahren organisiert werden.
...
Man weiß, dass sozial Schwächere die Instrumente der direkten Demokratie kaum nützen.
Jung: Die Beobachtung ist richtig, sie lässt sich aber auch bei Wahlen machen. Auch da ist die Mittelschicht, die sich durch mehr Bildung und mehr Einkommen auszeichnet, aktiver. Gegenfrage: Soll man jene, die sich nicht beteiligen, als Maßstab für Interessierte und Engagierte nehmen? Ich finde, nicht.
...
Ein weiteres Gegenargument lautet: Viele Themen sind zu komplex, um sie in Volksbegehren und Referenden zu behandeln.
Jung: Dann schauen Sie sich einmal die Parlamente an. Bei der Schlussabstimmung gibt es niemals ein "Ja, aber". Oder ein "Nein, solange nicht ...". Entschieden wird auch dort letztendlich nur mit Ja oder Nein.
...
Ich bin gegen Tabus. Was im Parlament behandelt wird - und seien es Bundesfinanzen -, kann auch durch Volksgesetzgebung behandelt werden.
Zitat:Erst ein Franzose, Jean-Jacques Rousseau, traute den Menschen Demokratie und radikale Mitbestimmung wirklich zu: Der Citoyen, der Bürger, bewahre seine Freiheit in der Volkssouveränität, schreibt er. In seinem 1762 erschienenen Contrat Social entscheidet dieses Kollektiv als mündiger Souverän in all seiner Weisheit.
...
Daraus folgt unbedingt eine erste Pflicht für echte Demokraten, nämlich wachsam auch gegenüber der Demokratie zu sein - was deren inneren Feinde betrifft, was deren mögliche Selbstabschaffung betrifft und vor allem, was deren Missbrauch durch Antidemokraten mit wohlfeilen Rezepten für eine angeblich unmittelbar zu verwirklichende bessere Welt betrifft.
Zitat:Die Belege für dieses Gebot der Vorsicht finden sich in der Geschichte in ausreichender Zahl: der brennend ehrgeizige Va-banque-Spieler und "radikale Demokrat" Alkibiades trieb die Athener Volksversammlung in die für die Griechen katastrophal endende Sizilische Expedition.
Der leibhaftige Antidemokrat des 20. Jahrhunderts, Adolf Hitler, kam demokratisch an die Macht.
Zitat:Und in der Schweiz brauchten die Herren in ihrer so hochgelobten, urtümlichen direkten Demokratie immerhin bis zum Jahr 1971, bis sie den Frauen das Wahlrecht zugestanden.
Zitat:Auf kantonaler Ebene musste das Schweizer Bundesgericht in Lausanne für Appenzell-Innerrhoden noch 1990 einen von den hartleibigen Appenzeller Männer auf ihrer "Landsgemeinde" -Versammlung gefassten gegenteiligen Mehrheitsentscheid für widerrechtlich erklären, um den Appenzeller Frauen endlich ihr kantonales Stimmrecht zu geben.
Zitat:bleibt so auch nicht nur eine unbewiesene Tatsachenbehauptung, sondern kann als glatt gelogen durchgehen.Für Konsensdemokratien wie jene in der Schweizerischen Eidgenossenschaft mag das basisdemokratische Primat trotz seiner evidenten Schwächen taugen, für Konkurrenzdemokratien wie die österreichische bleibt es problematisch.
Zitat:Das zeigt auch der aktuelle Fall: In der Volksbefragung über die Abschaffung der Wehrpflicht wird über viel debattiert, ... geriet die Diskussion in den Fleischwolf der Parteizentralen - die Sachauseinandersetzung war damit vorbei, das "Grundrecht auf Dummheit" wurde in diesem Fall vor allem auch von den Politikern weidlich für sich selbst in Anspruch genommen. Ein Misstrauen gegenüber den Wählern muss deren Repräsentanten so gleich doppelt treffen.
Zitat:Und gerade deswegen bleibt dieser Artikel von Christoph Prantner/Christoph Winder ein rabulistisches Pamphlet.Gerade deswegen ist und bleibt eine gewisse skeptische Zurückhaltung der angeblich glänzenden Unfehlbarkeit des Volkswillens gegenüber angebracht.
Zitat:... Indiz für das insgesamt antiinstitutionelle Moment in dieser Offensive für eine direktere Demokratie.
Zitat:Mehr oder totale Transparenz führe auch nicht automatisch zu Veränderungen oder politischen Reformen. Sie ist per se noch keine Kritik an bestehenden Systemen.
Zitat:Wichtiger als die rein quantitativen Aspekte der Stimmbeteiligung sind die qualitativen. Die Forschung konnte ausführlich belegen, dass zwischen generellem politischen Interesse, Informiertheit bei Sachentscheidungen und Beteiligung ein relevanter Zusammenhang besteht. Mit anderen Worten: Wer sich in der Schweiz an Sachabstimmungen beteiligt, ist besser informiert als Abwesende, und dies erfolgt auf einem vergleichsweise höheren politischen Interesse. Damit reguliert die Politisierung die Meinungsbildung in erheblichem Masse und diese bestimmt die Beteiligung massgeblich. Auf die Qualität der Entscheidung hat dieser Mechanismus nur Vorteile.
Entsprechend verzichtet die Schweiz heute weitestgehend aus Zwangsmassnahmen wie Bussen oder Anreize wie Vorteile für BürgerInnen, die sich beteiligen. Strafen wären kaum mehr durchsetzbar, und die Absicht, politische Beteiligung mit ökonomischen Privilegien heben zu können, hat kaum Wirkungen gezeigt. Vorteilhaft auf die Stimmbeteiligung wirkt sich dagegen die Einfachheit der Stimmabgabe aus.
...
Ueberhaupt, man muss Abschied nehmen von der Vorstellung, es würden sich immer die gleichen BürgerInnen bei Volksabstimmungen beteiligen. In viel höherem Masse als bei Wahlen variiert die individuelle Stimmbeteiligung von den Umständen wie dem Thema der Vorlage, der medialen Thematisierung während des Abstimmungskampfes, aber auch der Politisierung in den Wochen vor der Abstimmung.
...
Beteiligungen von mehr 50 Prozent sind eher selten und meist nur mit populistischen Kampagnen erreichbar, was den Anteil misstrauischer BürgerInnen unter den Stimmenden überproportional ansteigen lässt. Die Behörden haben das längst begriffen: Die Forderung, Abstimmungen nur gelten zu lassen, wenn sich mindestens die Hälfte beteiligt, wurde in den frühen 90er Jahren zu letzten Mal erhoben. Denn zwischenzeitlich haben die meisten PolitikerInnen, die etwas realisieren wollen, verstanden, dass bei hoher Beteiligung das Misstrauen unter den EntscheiderInnen steigt. Würden sich in der Schweiz alle Berechtigten beteiligen, wäre das Politisieren erschwert: