09.12.2011 10:17
Vordemokratische Zustand
Leserbrief
zum Demokratie-Leitartikel von Günther Nonnenmacher in der FAZ vom 30.11.11
Mit seinem Leitartikel „Ein Sieg für die repräsentative Demokratie“ vom 30.11.11 stellt Günther Nonnenmacher sich der Aussage des Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann entgegen, der „die Volksabstimmung über den Bahnhofsneubau ‚Stuttgart 21’“ „einen Sieg für die Demokratie“ genannt hatte.
Es ist hier nicht möglich, auf all die unzureichenden Argumente und unbegründeten Behauptungen, die in diesem Artikel vorgebracht werden, so einzugehen, dass sie als begründet widerlegt gelten können.
Mutig ist Günther Nonnenmacher, insofern er die Demokratie - als eine Form politischer Herrschaft, bei der das Volk (gemäß Artikel 20,2 GG) die letztgültige Entscheidungsinstanz (also der Souverän im Staat) bei Wahlen und Abstimmungen ist - offen kritisiert, indem er ihre derzeit vorherrschend praktizierte, minimale Erscheinungsform, den demokratisch legitimierten Parlamentarismus, gegen die erst anfänglich praktizierten Formen unmittelbarer Demokratie, als die bestmögliche Form verteidigt.
Einen eher autoritär gesinnten Konservativen ehrt dieser Kampf mit offenem Visier gegen die unausweichliche Weiterentwicklung der Demokratie.
Diese Haltung hat sein Gutes im Verlauf historischer Entwicklungen, weil sie Verfrühungen entgegenwirkt. Denn solange sie in einem bestimmten Fall noch stark vertreten ist, zeigt sie, dass die Sache noch nicht reif ist.
Wenn diese Haltung aber in einer Zeit der Überreife mit politischer Macht oder einem großen Einfluss (den ein FAZ-Herausgeber ohne Zweifel besitzt) verbunden auftritt, kann sie großen Schaden anrichten, weil eine Verzögerung des notwendigen Entwicklungsschrittes unkalkulierbare Folgen haben kann. Sie könnte im schlimmsten Fall entweder zu einer chaotischen Barbarei und danach (oder alternativ dazu zuerst) zu einem Rückfall in ein autoritäres (gar totalitäres) Regime führen.
Derzeit ist die Souveränität der Gesamtheit der wahl- und abstimmungsberechtigten Staatbürger-/innen (das Volk laut GG Art. 20,2) auf Bundesebene noch eingeschränkt, weil es keine ausführenden Gesetzesbestimmungen zur Ausübung des Abstimmungsrechtes des Volkes gibt.
Deshalb kann das Deutsche Volk als höchste Entscheidungsinstanz im Bundesgebiet derzeit nur bei der Bundestagswahl eine rechtverbindliche Entscheidung treffen, indem es seinen gesetzgeberischen Vormund wählt. Dabei entmündigt es sich bis zur nächsten Wahl, weil es die Entscheidungskompetenz über politische Sachfragen vollständig auf den gewähltem parlamentarischen Gesetzgeber überträgt, so das dieser nicht bloß als stellvertretender Gesetzgeber mit „Prokura“ legitimiert wird, sondern zum alleinigen und deshalb vormundschaftlichen Entscheidungsberechtigten ermächtigt wird. Das ist der gegenwärtige reale Sachverhalt.
In den Gemeinden und den Bundesländern sieht der reale Sachverhalt - dank der jahrzehntelangen Arbeit der Demokratiebewegung - mittlerweile anders aus. Die verschiedenen Demokratie-Initiativen, die sich seit 1983 herausgebildet haben, setzen sich seitdem für die Verwirklichung eines außerparlamentarisch zu initiierendes Volks-Gesetzgebungs-Verfahren in drei Schritten (1. außerparlamentarische Gesetzesinitiative, 2. Volks-Begehren 3. Volks-Entscheid) auf allen politischen Ebenen – zum Teil mit großen Erfolgen - ein. Ihnen ist zu verdanken, dass in den meisten Gemeinden und in vielen Bundesländern die bestehende parlamentarische Gesetzgebung durch ein mehr oder minder gut praktizierbares und faires Volks-Gesetzgebungs-Verfahren in drei Schritten ergänzt wurde.
Erst durch ein solches Volksgesetzgebungsverfahren werden auch die einzelnen Landesgesetze und Beschlüsse in den Gemeinden und Ländern vollständig demokratisch legitimiert, weil eine jederzeit mögliche außerparlamentarische Gesetzesinitiative nicht ergriffen wird oder als Initiative, im Volksbegehren oder in der Volksabstimmung nicht erfolgreich ist. Erst so ist empirisch erwiesen, dass der jeweilige Souverän die einzelnen parlamentarischen Entscheidungen akzeptiert.
Besteht diese Möglichkeit nicht, dann sind die einzelnen Entscheidungen des Parlaments nicht hinreichend demokratisch legitimiert, da diesem die Entscheidungsmacht durch die demokratische Wahl nur pauschal übertragen wird. Nach diesem Ermächtigungsakt durch den Volkssouverän bei der Parlamentswahl tritt wieder ein vordemokratischer Zustand der Fremdbestimmung ein, weil faktisch das Parlament zum Souverän wird. Deshalb wäre „Parlamentarismus“ die richtige Bezeichnung dieser Staatsform.
Um diese vormundschaftliche Fremdherrschaft über die Staatbürger ausüben zu können, muss sie unzutreffend als Demokratie etikettiert werden, denn seit der Zeit der amerikanischen und französischen Revolution streben zunehmend mehr Menschen nach der Verwirklichung der Demokratie. Sie sollen glauben, dass sie schon existiert, weil sie ihren Vormund selbst wählen dürfen. Dieser Irrtum wird - trotz der ständigen (fast DDR-Methoden gleichen) Falschinformationen, die von den großen Medien suggestiv verbreitet werden, - zunehmend als solcher erkannt.
Aus historischen Gründen, die sich aufgrund bestimmter Bewusstseinsentwicklungen ereigneten, ist die Mitte Europas besonders dazu geeignet, die Demokratie im hier angedeuteten Sinne weiter zu entwickeln.
Deshalb ist die Schweiz als ein „Urbild“ für ein demokratisches Europa so wichtig.
Der beschriebene vordemokratische Zustand im bestehenden demokratisch legitimierten Parlamentarismus ändert sich auch nicht dadurch, dass die „Volksvertreter ... Meinungsumfragen wie Reisende das Kursbuch (lesen)“.
Im Gegenteil, es ist ja gerade das Verhängnisvolle, dass sie dies tun.
Denn so orientieren sie sich an den bloß unverbindlichen Ergebnissen, die heute in den Erhebungen durch die Meinungsforschungs-Institute ermittelt werden. Diese zeigen uns bloß die sich häufig ändernden, augenblicklichen Stimmungen und Meinungen der heute noch zu wenig informierten – da oft demotivierten - Menschen.
Erst wenn diese die Möglichkeit der Beteiligung bei der Gesetzgebung haben, werden diejenigen unter ihnen, die sich verantwortungsvoll daran beteiligen, mit der Zeit zunehmend motiviert, sich zu informieren, worüber sie abzustimmen haben. Ein großer volkspädagogischer Prozess wird so in den nächsten Jahrzehnten in Gang gesetzt, bei dem die Medien eine große, verantwortungsvolle Rolle zu spielen haben. Deshalb sollten deren diesbezüglichen Aufgaben durch gesetzliche Regeln neu bestimmt werden.
Die Abstimmungsberechtigten sollten sich in den dazu notwendigen Zeiträumen vor jedem Volksentscheid in den Medien umfangreich frei über das Für und Wider der von den außerparlamentarischen Volksinitiativen vorgelegten Gesetzesentwürfen informieren können. Anderenfalls kommen zu oft nur unreflektierte, stimmungsabhängige und deshalb dann unsachgemäße Entscheidungen zustande, die dann schnell wieder korrigiert werden müssen, nachdem die meisten bemerkt haben, dass das von ihnen Beschlossene Folgen hat, die sie nicht gewollt, aber vorher so nicht gesehen haben.
So werden selbstinitiierte Lernprozesse im großen Umfang möglich, und das gesamte kreative Problemlösungspotential der mündigen Menschen eines Volkes kann in diese Prozesse der Urteils- und Willensbildung einfließen.
Diese Reflexionsprozesse vor den Volksabstimmungen machen ja den sehr großen Unterschied aus zu den unverbindlichen Ergebnissen bei stimmungsermittelnden Umfragen der Meinungsforschungs-Institute, die die Volksvertreter angeblich „wie Reisende das Kursbuch“ lesen.
Achberg, 2.12.2011 Herbert Schliffka
geschrieben von:
cassiel (IP-Adresse bekannt)
Datum: 09.12.2011 10:17