Prof. Dr. Roland Geitmann: S21: Mehrheitsentscheidungen respektieren!
20. September 2011
Quelle:
Mehr Demokratie e.V.
S21: Mehrheitsentscheidungen respektieren!
Von
Prof. Dr. Roland Geitmann, Kehl
Professor Roland Geitmann kommentiert die möglichen Folgen des Abstimmungsquorums bei der geplanten Volksabstimmung über Stuttgart 21.
Die geplante Volksabstimmung über das Projekt Stuttgart 21 darf nicht zur Farce werden, die nur der Scheinlegitimation eines fragwürdigen Projekts dient.
In Baden-Württemberg sind die direktdemokratischen Verfahrensregeln zumindest auf Landesebene noch völlig unpraktikabel und werden darin nur noch vom Saarland übertroffen. Eine der Hürden, die seit Einführung dieses Instruments 1974 jeden Volksentscheid verhindert haben, ist das so genannte
Zustimmungsquorum. Im Unterschied zu Bayern, Hessen und Sachsen genügt hier für eine erfolgreiche Volksabstimmung nicht etwa eine
Mehrheit der Ja-Stimmen, sondern muss diese Mehrheit gleichzeitig mindestens ein Drittel aller Wahlberechtigten betragen. Das setzt bei ausgeglichener Meinungslage eine irreal hohe Beteiligung voraus.
Doch Sachfragen berühren und interessieren immer nur einen Teil der Bevölkerung. An einer landesweiten Abstimmung über den Stuttgarter Bahnhof wird sich voraussichtlich nur eine Minderheit beteiligen. Selbst bei einer mit 50 % hohen Teilnahme müssten zwei Drittel(!) für den Ausstieg stimmen, damit das Gesetz zustande kommt.
Zustimmungsquoren begünstigen also einseitig die Gegner einer Vorlage, verleiten sie dazu, Diskussion und Abstimmung zu boykottieren, und unterlaufen damit den Sinn des ganzen Verfahrens.
Mit Recht forderten die bisherigen Oppositionsfraktionen SPD und Grüne im August 2010 in einem Verfassungsänderungsentwurf, bei Volksabstimmungen über einfache Gesetze auf dieses Quorum zu verzichten durch Streichung des zweiten Satzes in Art. 60 Absatz 5 der Landesverfassung:
"Bei der Volksabstimmung entscheidet die Mehrheit der abgegebenen gültigen Stimmen. Das Gesetz ist beschlossen, wenn mindestens ein Drittel der Stimmberechtigten zustimmt."
Den Gegenvorschlag der damaligen CDU/FDP-Regierungskoalition, das Quorum lediglich auf 25 % zu senken, lehnten SPD und Grüne als unzureichend ab.
An der Lauterkeit dieser scheinbar konsequenten Haltung darf man bei der SPD mittlerweile zweifeln. Denn einerseits verspricht sie in ihrer Koalitionsvereinbarung mit den Grünen vom April 2011 erneut die Abschaffung des Quorums; andererseits weigert sie sich bislang, bei einer Volksabstimmung über Stuttgart 21 das Mehrheitsvotum der Abstimmenden anzuerkennen.
Wie der Verfassungstext deutlich erkennen lässt, verhindert das Quorum lediglich das verbindliche Zustandekommen des Gesetzes. Die Lage bleibt also offen;
auch ohne vorherige Verfassungsänderung kann der Landtag sich der Abstimmungsmehrheit beugen und das Gesetz seinerseits beschließen. Auf kommunaler Ebene ist der Gemeinderat sogar ausdrücklich zu solcher Neubewertung und Entscheidung gezwungen, wenn ein Bürgerentscheid das Zustimmungsquorum (25 %) verfehlt hat. Beispiele für solch nachträgliches Einlenken lieferten die Städte Tübingen, Freiburg und Heidelberg.
Mit ihrem wiederholten Bekenntnis zur Streichung des unfairen Zustimmungsquorums hat sich die SPD (wie die Grünen) politisch geradezu verpflichtet, diesen Weg der nachfolgenden Übernahme des Mehrheitsvotums zu gehen. Andernfalls weckt die SPD den Verdacht, das Instrument Volksabstimmung nur taktisch zu verwenden zwecks (Schein-)Legitimation des Projekts S 21. Möglicher Weise verspricht sie mehr Bürgermitbestimmung auf Landesebene nur in der Annahme, dies mangels Mitwirkung der CDU nicht einlösen zu brauchen.
Wir nehmen indes die SPD beim Wort, die seit ihren ersten Parteiprogrammen für Volksgesetzgebung eingetreten ist, und fordern sie auf, das rechtlich Mögliche und im Fall Stuttgart 21 nahe Liegende zu tun, nämlich beim (wahrscheinlichen) „unechten Scheitern“ des Ausstiegsgesetzes am Zustimmungsquorum das Mehrheitsvotum zu akzeptieren, wie es die Grünen in den Koalitionsverhandlungen zu Recht erwartet haben. Andernfalls verspielt die SPD ihre Glaubwürdigkeit und riskiert einen Demokratie-GAU.
Auch für die versprochenen weiteren Erleichterungen direktdemokratischer Verfahren, insbesondere die überfällige Senkung des Quorums bei der Vorstufe, dem
Volksbegehren, darf sich die neue Regierungskoalition nicht damit herausreden, dass ihr die erforderliche Zwei-Drittel-Mehrheit im Landtag fehlt. Denn für Verfassungsänderungen steht ihr der Weg des Art. 64 Absatz 3 der Landesverfassung zur Verfügung, dessen erster Satz lautet:
"Die Verfassung kann durch Volksabstimmung geändert werden, wenn mehr als die Hälfte der Mitglieder des Landtags dies beantragt."
Eine Volksabstimmung über die Regeln der Volksabstimmung wäre für Baden-Württemberg wie ein neuer Gesellschaftsvertrag über das künftige Zusammenleben und würde .Demokratie in den Herzen der Menschen tiefer verankern.
Für eine verbindliche Volksabstimmung über Verfassungsänderungen bedarf es allerdings einstweilen noch der Zustimmung von 50 % aller Stimmberechtigten – eine schier unüberwindbar erscheinende Hürde! Doch in einer gewaltigen Mobilisierungsanstrengung könnte es (am ehesten am Tag der nächsten Bundestagswahl im Herbst 2013) gelingen, genügend viele Menschen an die Urnen zu bringen und diese Blockade unserer Demokratieentwicklung zu durchbrechen.