Leserkommentar von
Lukas Kaelin
Zitat:
Denn eine Lektion der öffentlichen Auseinandersetzung in der Schweiz ist, dass die Berufung auf wirtschaftliche Nachteile und die Schwierigkeit der Umsetzung offenbar nicht genügten, die Mehrheit der Bevölkerung zu überzeugen. Anstatt mit der positiven Vision einer liberalen Gesellschaft- zum Beispiel umfassende Freiheiten - dem populistischen Begehren entgegenzutreten und gleichzeitig die sozialen Verwerfungen, die durch die Personenfreizügigkeit entstehen, ernst zu nehmen (Lohndruck, Mietpreise, Sorgen um den Arbeitsplatz), wurde stets vor wirtschaftlichen Nachteilen gewarnt. Dass der angeführte wirtschaftliche Sachzwang keine Mehrheit fand, ist ein ermutigendes politisches Zeichen.
Es ist ein ermutigendes Zeichen, weil der Raum der politischen Entscheidungsfreiheit gestärkt und vergrößert wird. Der mutmaßlichen Alternativlosigkeit und dem überwältigenden Sachzwang wurde der politische Wille des Souveräns, wie es in der Schweiz gerne heißt, entgegengesetzt. Die liberale Demokratie besteht nicht nur aus den liberalen Freiheitsrechten, sondern auch aus der Volkssouveränität. Die Entscheidung des Schweizer Volkes kann auch als Absage an eine Politik der Alternativlosigkeit und der bedingungslosen Unterordnung unter wirtschaftliche Sachzwänge verstanden werden.
...
Die Niederlage der überwiegenden Mehrzahl der politischen Parteien bedeutet, dass mehr Anstrengungen unternommen werden müssen, um die Bevölkerung von ihrer Vision der Schweiz zu überzeugen. Gerade hier besteht ein entscheidender Vorzug direktdemokratischer Verfahren, denn sie zwingen zur Überzeugungsarbeit und zum öffentlichen Austausch über politische Ideale und Vorstellungen.
...
Gerne wird nun mit der Ablehnung des EWR durch die Schweiz 1992 argumentiert. Auch damals wurde die wirtschaftliche Isolation beschworen, und trotzdem fand sich ein Weg zur europäischen Integration. Auch politisch ist die Angst ein schlechter Ratgeber. Persönlich missfällt mir als in Wien lebendem Schweizer das Abstimmungsergebnis, weil für mich die liberalen Rechte und die Personenfreizügigkeit von existenzieller Bedeutung sind. Zugleich stört mich doch ein Demokratieverständnis, das von einem grundlegenden Misstrauen gegenüber dem Volk geprägt ist. Mir ist das Risiko von "nicht immer genau abwägenden Wählern" (nochmals Frey) lieber als eine von ökonomischen Sachzwängen bestimmte Post-Demokratie.