Editorial von Roger Köppel
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Zitat:Die aggressive Panik bestätigt, was die Schweizer, höflich, wie sie sind, immer dachten, aber selten auszusprechen wagten: Die EU ist ein zutiefst demokratiefeindliches Gebilde mit einer unsympathischen Geringschätzung des Bürgers. Demokratie ist für die EU eine Bedrohung, weil Demokratie bedeutet, dass das Volk der Chef ist und nicht der vom Volk bezahlte Berufspolitiker. Deshalb bezeichnet sich die EU lieber als «Wertegemeinschaft» denn als Demokratie. Werte setzen Wahrheit vor Mehrheit. Wer dauernd von Werten spricht, will die Demokratie beseitigen.
Die Schweiz setzt Mehrheit vor Wahrheit. Das ist Demokratie.
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Die Schweizer sind nicht krank. Sie misstrauen der EU, weil sie gute Gründe dafür haben. Solange die EU keine klar besseren Alternativen bietet, halten sie am Bewährten fest. Das ist vernünftig und ärgert die EU. Die Eurokraten wissen, dass jedes ablehnende europapolitische Schweizer Votum ihre eigene dürre Rechtfertigungsgrundlage erschüttert.
Es könnte ja sein, dass die eigenen Untertanen noch selber auf die Idee kommen könnten, Volksabstimmungen abzuhalten. Es wäre der Untergang der heutigen EU. Deshalb darf die Schweiz die Verteufelungen aus Brüssel nicht persönlich nehmen. Die Beleidigungen drücken Verzweiflung aus. Ihre Absender pfeifen aus dem letzten Loch.
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Trotzdem behauptet Brüssel, die Schweiz sei ein «Rosinenpicker», sie profitiere einseitig von den guten vertraglichen Beziehungen. Das ist nachweislich falsch. Aber selbst wenn es so wäre: Warum hat dann Brüssel diese Verträge freiwillig abgeschlossen? Und weshalb freut sich Brüssel nicht, wenn die Schweiz heute eine Kündigung dieser Verträge riskiert, die doch Brüssel angeblich so sehr benachteiligen? Man kann die Vorwürfe beim besten Willen nicht ernst nehmen.
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Der letzte Sonntag war ein guter Tag für die Schweiz und ein mindestens so guter Tag für Europa. In der EU wird sich der Ruf nach mehr Demokratie nicht mehr so leicht unter dem Deckel halten lassen. Es gärt und rumort an allen Ecken und Enden.
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Wir sagen das in aller Bescheidenheit und ohne den Anspruch, Europa zwanghaft beglücken zu wollen: Das wachsende Demokratiedefizit der EU ist ein Wirklichkeitsdefizit. Staaten oder Grossreiche, die sich von ihren Bürgern entfernen, heben ab, wissen alles, aber sehen nichts, schweifen im Blindflug herum, bis sie auf eine Felswand oder auf den Boden knallen. Die EU sollte der Schweiz, anstatt ihre Stimmbürger zu beleidigen, für die Navigationshilfen dankbar sein.
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Kann der Bundesrat, der vor einer Woche noch würdelos im Abstimmungskampf trommelte, jetzt glaubhaft das Gegenteil für die Schweiz herausverhandeln? Ja – auch wenn er sich nie so krass in die politischen Schlachten hätte werfen dürfen. Das ist ja gerade das Geniale an der direkten Demokratie. Sie macht politische Wendemanöver möglich, ohne dass es für die Regierenden, die ja nur Vollzugsorgan des Volkswillens sind, zu einem politischen Gesichtsverlust kommt. Der Bundesrat kann sich immer auf die Demokratie berufen. Ein stärkeres Mandat gibt es nicht.
Das kann "man" (classe politique und veröffentlichte Meinung) sich in Deutschland nicht vorstellen. Hier würde man sofort den Rücktritt der Regierung verlangen.